MOTZEN – ZOSSEN – BRAND – TROPICAL ISLANDS
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Pragmatisch sein und improvisieren.
Etwas anderes bleibt mir nicht übrig, als ich mit Schmerzen in Motzen ankomme. Nur vierzehn Kilometer habe ich mit dem Gepäck geschafft und ich bin schon wieder genauso am humpeln wie einige Tage zuvor. Ich bin frustriert, verkatert und übel gelaunt, Abbruch ist allerdings keine Alternative.
Ich fahre also von Motzen bis Teupitz mit dem Bus. Kurz vor dem Ziel erkenne ich einen Campingplatz im Wald, fahre aber dennoch weiter. In Teupitz dann: Nichts. Alles hat geschlossen an diesem frühen Dienstagabend und der nächste Bus zurück zum Campingplatz fährt früh – am nächsten Morgen. Ich muss also an der Hauptstraße entlang zurück humpeln und kann wirklich nichts mehr, als ich ankomme und das Zelt aufgebaut habe, außer schnaubend in den Schlafsack zu kriechen.
Am nächsten Morgen habe ich wirklich Bedenken, die Reise abbrechen zu müssen. An der Straße entlang hangele ich mich zurück bis Teupitz, dort gibt es einen wässrigen Kaffee und die Erkenntnis, dass sich mein Leben in einem Zersetzungszustand befindet. Eine langjährige und ernste Beziehung ging in die Brüche, wenige Wochen bevor ich losgegangen bin. Der Arbeitgeber, der mir durch seine üppige und realitätsferne Bezahlung erst diese Reise ermöglicht hat, meldet sich nicht mehr. Dafür ein Anruf aus Berlin: Meine Wohngemeinschaft löst sich langsam aber sicher auf. Und mein Knie bringt mich um den Verstand. Die Lösung für all diese Probleme wird wohl in der Zerstreuung liegen und so sehe ich keine Alternative als nach Brand zu fahren und mein Zelt in Tropical Islands aufzubauen. Vorher kaufe ich mir noch eine Bandage für das Knie, denn wenn man etwas findet in der Provinz, dann sind es ja bekanntlich die Apotheken.
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Auf dem Weg nach Brand schaue ich mir Halbe an. Soldatengräber, Mahnmale, der „Kessel von Halbe.“ „Alle eure Hoffnungen sind zusammengebrochen!“ steht auf einer Tafel, zitiert aus einem Flugblatt der Roten Armee. Hier mussten zehntausende sterben, nicht ausschließlich, aber am Ende auch gerade weil man zu stur war, eine Niederlage einzugestehen. Halbe ist ein einziger, großer Soldatenfriedhof. Heute befindet sich nur einige Kilometer entfernt das Urlaubs- und Freizeitufo Tropical Islands. Was diese Stimmungen und Gegensätze mit meinem Gemüt anstellen ist schwer in Worte zu fassen. Ich fühle mich deplatziert, verloren, abgeschnitten von meinen Motiven und Zielen. Mir ist dennoch irgendwie überhaupt nicht nach Erholung zumute und dennoch bin ich auf dem Weg zu Schirmchencocktails und Animationsprogramm. Keine Angst vor Brüchen und Widersprüchen muss nun die Devise sein.
Der Shuttle-Bus von der Bahnhofsruine in Brand bis zum Campingplatz ist kostenlos. An der Rezeption werde ich erst einmal ausgelacht. Die Frau am Empfang hat scheinbar lange niemanden mehr gesehen, der hier sein eigenes Zelt anschleppt. Anders kann ich mir ihr Lachen nicht erklären. Sie benötigt dann geschlagene zwanzig Minuten, um mich einzutragen und mir die üblichen Broschüren, Formulare, Quittungen auszuhändigen. Es ist angenehm leer heute, meint sie. Das bedeutet: 1326 Besucher. Ich baue mein Zelt auf und laufe querfeldein hinüber zu diesem monströsen Erholungsgegenstand.
Ich war bereits einmal zu Gast hier. Mit meiner damaligen Freundin habe ich ein sogenanntes „Wellness-Wochenende“ in der Halle verbracht. Jeder sollte selbst einmal gesehen haben, was hier verkauft und zelebriert wird. Kein Reiseführer über Deutschlands Top-Attraktionen kommt ohne die ehemalige Zeppelinhalle aus. Ich dachte, ich hätte genügend Eindrücke für zwei Leben bei meinem ersten Besuch gesammelt, aber irgendetwas an diesem Ort zog mich im Rahmen dieser Reise erneut an. Die Ahnung eines Spektakels? Konzentrierte Menschenmassen außerhalb Berlins? Die Abstraktheit des Ortes? Also: An der Kasse auf die Zähne beißen, denn sie meinen es hier ernst, und hinein in dieses Kuriositätenkabinet.
Vorneweg: Es ist grundsätzlich natürlich großartig, dass es diesen Ort so gibt. Ein Zeppelinprojekt wird grandios gegen die Wand gefahren und in der Halle installiert man anschließend mit viel Geld und Logistik einen tropischen Regenwald inklusive Hotel und Spaßbad. Brands Bahnsteig erwacht aus Ruinen und in der Region wird es der größte Arbeitgeber und zu einem Magneten für Besucher aus ganz Deutsch- sowie dem Ausland. Soweit zur Erfolgsstory. Allerdings: Heiliger Bimbam. Wo ist man hier gelandet?
Es ist ein hervorragend geeigneter Ort, um aus dem Berliner Performance-Verhalten – bei dem man ja ständig irgendwem (und sei es sich selbst) etwas vorführt, Mitmenschen durch Konversation und Darbietung unterhält, dabei unter Zugzwang steht, die traumhaftesten Dinge zu erleben und vor allem davon zu berichten – wieder hinein in den „Fliege-an-der-Wand“-Modus zu wechseln. Und was man sieht verschlägt mir auch beim zweiten Besuch die Sprache. Was hier nach einem Urlaub aussieht:
Die Flamingos.
Die Cocktailschirmchen.
Die Temperaturanzeige.
Die Essenspreise (abhängig vom Urlaubsort).
Menschen in Bademode.
Sand an den Füßen.
Ende der Liste.
Es ist laut und hallend.
Die Gesichter in die ich schaue, wirken eher selten glücklich und entspannt, die Menschen, die sie durch die künstlichen Tropen schlappen, scheinen nur selten ausgelassen zu sein, ihre Blicke sind dafür oft gestresst, ausgelaugt, teilnahmslos. Sie haben gerade 34€ oder 44€ (inklusive Saunalandschaft) für den Eintritt in ein Schwimmbad bezahlt, jedoch kostet die Nutzung des Rutschenturms 5€ extra pro Person. Überhaupt kostet alles extra: Minigolf, Solarium, Sauna, Ballonfliegen. Der graue Beton schaut hinter der „Trueman-Show“-artigen Himmelwand hervor und ergibt in der Kombination mit den quietschebunten Badeklamotten und den omnipräsenten Tattoos ein visuelles Trauerspiel. Auf dem harten Boden liegen zwei Mädchen und sonnen sich ohne Sonne. Überall bemerke ich nach Terpentin und Lebensmittelfarbe anmutende Drinks in Plastikbechern, dazu die BILD-Zeitung oder kyrillische Militärzeitschriften. Das ist jetzt die Simulation eines Urlaubs?
Die Frage, was der Mensch mit auf eine einsame Insel nehmen würde, kann hier ganz klar beantwortet werden: Das Smartphone. Ein riesiger Werbebanner empfiehlt den Download der Strand-App. Stimmt, ohne die geht hier bestimmt gar nichts.
Und dies alles ist in seiner Erscheinung doch so unverwechselbar und typisch deutsch: Eine Meisterleistung der Ingenieurskunst, Ordnung und Sauberkeit herrschen vor, überall finden sich kleine Warnhinweise, das Essen hat bestenfalls Kantinenqualität und aus den Boxen dröhnt Helene Fischer. Dazu hat es dreißig Grad und eine unfassbar fassbare Luftfeuchtigkeit.
Ich habe mich auf die Ballonfahrt gefreut. Zum einen, um etwas gegen meine Höhenangst zu unternehmen. Zum anderen, weil ich den eigens hierfür geschaffenen Beruf des „Ballonausführers“ so bewundernswert verschroben finde. Man besteigt einen Heliumballon, der an einer Leine befestigt ist, die wiederum an einem jungen Herrn fixiert wird, der den zahlenden Kunden dann durch die Halle führt. Der Basispreis für den Flug liegt bei dreißig Euro. Entnervt vor Dreistigkeit zeige ich der hiesigen Preispolitik den mentalen Mittelfinger und esse stattdessen eine Portion Pommes rot-weiß, weil man das in Schwimmbädern einfach immer so macht. Never change a winning team.
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Danach suche ich die Illusion von Entspannung beim Saunieren, doch diese Art der Erholung wird mir hier irgendwie vergönnt. Denn, gewiss, die Saunen an sich sind spektakulär gestaltet und hübsch anzusehen. Es gibt einen Tempel wie in Angkor Wat, eine Baumhaussauna, Regenwaldduschen etc. etc. Doch wie um alles in der Welt soll man die Seele baumeln lassen, wenn das direkt vor den Saunahütten verbrochene Animationsprogramm einem bei hundert Grad zusetzt? Wie soll man die Ruhe bewahren, wenn überproduzierter Technokonservenpop mit jahrmarktähnlichen Mikrofonansagen bis zur Baumhaussauna schallt? Wenn der Körper ohnehin auf den Zustand eines Fiebers erhitzt, wird dies zu einer nur schwer erträglichen Zumutung, sowohl im Urlaub als auch im Feldversuch.
Bei denen, die sich unter all den Umständen dann doch hinein in die Saunen trauen, sehe ich eine Ansammlung der schlimmsten Tattoos aller Zeiten. Militäranspielungen, Adler auf der Brust, martialisches Gehabe, Runen.
Ein Mann um die sechzig schlendert mit zwei wirklich sehr, sehr jungen Frauen in den Armen durch die Saunawelt, Töchter würden ihren Vater nicht so reizend kuschelnd durch die Gegend eskortieren.
Man sucht Trost und Halt im Essen und fällt noch tiefer. Asiatisch anmutende Nudeln sind mehrfach wieder aufgewärmt, sie werden bereits unfreiwillig knusprig. Eine Fertigsoße wird darüber gekippt, an ihr ging der Aufwärmprozess offensichtlich spurlos vorüber. Der Preis hierfür ist durch Phantasie alleine nicht zu rechtfertigen. Am Nebentisch wird gefragt, ob es geschmeckt hat und die Antwort ist so knapp wie wahr: „Nein.“ Den Text merke ich mir, das werde ich auch gleich sagen. Zur Wiedergutmachung gibt es einen Cappuccino mit Schlagsahnehaube.
Danach teste ich eine der Strandbars. Neben mir am Tisch: Eine Gruppe aus Russland, zwei Dutzend Menschen um die vierzig bis fünfzig. Die Frauen tragen alle das selbe T-Shirt-Design, die Männer allesamt einen knapp geschnittenen, schwarz-weiß gestreiften Männerbadeanzug. Einer von ihnen kommt von der Toilette zurück und hat einen gigantischen nassen Fleck im Schritt. Sie saufen, sie grölen, sie rempeln jeden an, sie streiten sich untereinander und mit den Kellnern. Immerhin: Sie haben unendlichen Spaß.
Mir ist es tatsächlich ein bisschen peinlich, dass sich dieses Gebäude in Deutschland befindet. Und dennoch: Das Konzept steht für ein mutiges Upcycling. Denn wer hätte das gedacht, dass eine künstliche Tropenlandschaft in Brandenburg so viele zahlende Gäste anlocken würde? Und damit scheint es bereist sinnvoller als, sagen wir: Eissporthallen in Texas oder eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Dennoch bleibt die Frage: Was verschlägt Menschen im Sommer hierher, wenn sich dutzende Badeseen im direkten Umland befinden?
Ich verlasse die Superlativhalle ratloser als ich sie betreten habe, desillusioniert, dehydriert, durch. Dieser Ort wirft mehr Fragen auf, als welche zu beantworten.
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