MALCHOW – RÖBEL
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Bewusst zu Scheitern war von Anfang an Teil meines Konzepts.
Hätte ich Misserfolg und Versagen nicht von vorn herein akzeptiert, oder wäre ich dogmatischer gewesen was die Art der Fortbewegung betraf, hätte ich mich mit dieser Reise sehr unglücklich gemacht. Scheitern kann ein herrliches Prinzip sein, wenn man es nicht zu persönlich nimmt. Es lädt dazu ein, die Ursachen des Misserfolgs zu entschlüsseln und es beim nächsten mal besser zu machen. Man wächst durch Niederlagen, kann die Try-and-Error und Ursache-Wirkungs-Prinzipien zu seinen vollen Gunsten ausnutzen. Im Scheitern tun sich neue Wege auf. Dennoch tut es höllisch weh.
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Trotz der Ambitionen muss ich zu Beginn meiner Reise feststellen: Ich verfüge weder über verwertbaren Wandererfahrungen noch über die dafür nötigen Muskeln. Das Handlungssystem „Wanderer“ im nun angestrebten Sinne, nämlich mit extremen und übermotivierten Ansatz – ist mir unbekannt. Da war dieser eine Tag ein halbes Jahr zuvor, an dem ich mit Freunden durch eine sehr lange Schlucht auf Kreta gewandert bin. Dreißig Kilometer fast ausschließlich bergab über Felsen und Geröll. Während um uns herum die wirklich naiven Touristen mit geschwollenen Knöcheln in ihren strassbesteinten Sandalen auf den Rücken von Maultieren wieder nach oben getragen wurden, sind wir problemlos über die Steine gesprungen. Es war eine grandiose Tour und natürlich waren wir am Ende ziemlich erledigt, aber, hey, das könnte man doch öfters machen. Auf dieser Wanderung habe ich meine neuen Wanderstiefel eingelaufen. Danach hatte ich sie noch während zwei oder drei weiteren Spaziergängen in Berlin und in der Heimat getragen und ging davon aus, die Schuhe seien nun offiziell eingelatscht. Töricht war das und dumm. Heute bin ich schlauer: Eingelatscht waren sie ungefähr zu dem Zeitpunkt als ich in Sachsen wanderte.
Immerhin habe ich vorher regelmäßig mit meinem eigenen Körpergewicht trainiert. Liegestützen, Klimmzüge, Sit-Ups. Zwei Jahre vor der Wanderung habe ich das Rennradfahren für mich entdeckt und drehe seitdem alle paar Tage einige Runden um das Tempelhofer Feld. Zudem fahre ich seit fast zwanzig Jahren Skateboard. Schon lange nicht mehr so regelmäßig wie früher einmal, allerdings habe ich direkt vor der Wanderungen einen zweiwöchigen Skateboardurlaub mit Freunden verbracht.
Ich konnte also von mir behaupten, dass ich zum Beginn der Wanderung körperlich in einer recht fitten Verfassung war. Mit 32 Jahren war ich so gut trainiert wie nie zuvor und dachte mir, klar, es wird Schmerzen geben: Muskelkater, Blasen an den Füßen, das übliche eben. Wenn es, – respektive: ich – nicht mehr gehen könnte, würde ich einen Tag Pause einlegen, regenerieren, auftanken und am nächsten Tag einfach wie neu wieder weitermachen. Blauere Augen kann man nicht haben, wenn man sich mit einem 6km/h – Schritt und kiloweise nutzlosestem Gepäck auf einen langen Weg begibt. Die Quittung hierfür bestand aus einer intensiven Auseinandersetzung mit Schmerzen, einem Kampf gegen den eigenen Körper, der teilweise rauschhafte Züge annehmen konnte.
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Die neue Woche beginnt zwar mit einem mulmigen Gefühl beim Verlassen des Campingplatzes in den Wald hinein – wird das heute gut gehen? – allerdings bin ich die ersten Kilometer gezwungen, sehr langsam zu gehen, denn man läuft hier wortwörtlich auf Fröschen: Der laubbedeckte Weg durch den Wald ist überfüllt mit den kleinen Springern, die versuchen, sich unter dem Laub zu verstecken. Doof nur, wenn ich darauf durch den Wald laufe. So vorsichtig wie möglich und mit deutlich sichtbarer Lauf-Motorik stakse ich durch den Wald, ununterbrochen Dutzende von den Fröschen aufschreckend. Es sieht aus, als hätte jemand Unmengen kleiner Feuerwerkskörper im Laub versteckt, die nun rauch- und funkenlos in die Luft gehen, wenn ich in ihre Nähe komme. Ein kurioser und versöhnlicher Start in die neue Woche, doch nach einigen Kilometern, in etwa als ich Malchow erreiche, beginnt der Tag problematisch zu werden. Denn an diesem sechsten Tag der Reise zeigt mir der Schmerz seine nüchterne Kausalität. Durch die Blasen entwickle ich eine Schonhaltung beim Gehen. Weil ich morgens mit einer wirksamen und schmerzlindernden Mullbinde um die Blasen am rechten und mit dem nächsten Versuch der vollkommen wirkungslosen Blasenpflaster am linken Fuß loslaufe, ist diese Schonhaltung nun einseitig. Bis zum Mittag ist mein linkes Sprunggelenk dermaßen angeschwollen, dass ich die Wölbung der Knöchel nicht mehr erkennen kann. Ich humpele fortan ununterbrochen. Am späten Nachmittag, wenige Kilometer vor Röbel, beginnt mein linkes Knie einen stechenden Schmerz auszustrahlen. Es entsteht keine sichtbare Schwellung und der Schmerz ist in etwa der selbe, wie wenn ein Zahnarzt beim Bohren auf einen Nerv trifft. Er ist dann am qualvollsten, wenn man sich nach einer Rast, und sei sie auch nur einige Sekunden lang, wieder in Bewegung setzt. Natürlich versuche ich deshalb, nicht zu rasten und humpele weiter, weiter, immer weiter, bis ich Röbel vor mir erkenne. Ich spüre, dass dies alles andere als clever sein wird, aber was bleibt mir übrig, auf einem schmalen Feldweg umrandet von weiten Wiesen und noch unbestellten Feldern? Außerdem: Die paar Kilometer, das wäre doch gelacht!
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Am Stadtrand führt der Weg an einem Supermarkt vorbei, daneben befindet sich eine Wiese, auf der eine Frau gerade ihren Papillon-Hund das stetig wechselnde Revier markieren lässt. Der Hund knurrt als er mich aus der Ferne nahen sieht, wird aber kleinlaut als ich auf der Höhe von ihm und seinem Frauchen angelangt bin und stehen bleibe. Die Frau grinst mich an und sagt, der Hund sei so große Rucksäcke nicht gewohnt, da knurre er schon mal gerne. Ich lasse ihn an meiner Hand schnüffeln und frage sie, ob sie eine günstige Pension in der Nähe empfehlen könne. Ihr fällt keine ein, sie wohnen auch erst seit sieben Jahren hier. Hotels, natürlich, jede Menge gibt es hier, aber eine günstige Pension? Nein, das tue ihr leid. Ihr tut es wirklich leid, sie ist ganz verzagt und ruft hektisch ihren Mann herbei. Der kommt dann vom nahen Parkplatz zu uns hinüber und weiß auch nicht weiter zu helfen, ist dabei allerdings erheblich wort- und grinskarger als seine Frau und zieht erst einmal Russ-Cole-mäßig an seiner Raoul-Duke-igen Zigarette mit Plastikfilter. Die Frau grübelt noch, der Hund hat gekackt und dem Mann sind meine Pensionsansprüche weitestgehend egal, er will jetzt hier weg. Mir ist jetzt alles einerlei: Ich frage nach dem Campingplatz. Den ganzen Tag über ist meine Vorfreude auf ein Pensionsbett und den Saunabesuch in der Therme äquivalent zu meinem Schmerz angestiegen, sie wurde zur Motivation, es aus eigener Kraft bis nach Röbel zu schaffen. Jetzt bin ich hier und möchte nicht mehr weiter suchen oder hadern oder auch nur einen einzigen Meter umsonst gehen. Ich brauche dringend eine Lösung, sonst bekomme ich wirklich schlechte Laune und deshalb ist mir nun sogar der Campingplatz recht, auch wenn das den Verzicht auf ein Bett und wahrscheinlich auch die Therme bedeuten würde. „Ja, das ist eine sehr schöne Strecke, da gehen sie einfach immer unten am Wasser lang bis…“ fängt er an. Sie jedoch, mit ihrem zarten Omigrinsen, mit ihrem warmen und empathischen Frauenblick, der meine Schmerzen sehen kann, auch wenn ich still stehe und versuche, mir nichts anmerken zu lassen, fällt ihm in seinen Verabschiedungstonfall: „Aber da können wir sie auch hinbringen!“ Ein Impuls lässt mich lächeln, ich kann meine Freude über diesen Vorschlag nicht unterdrücken. „Ach, wenn sie das, also, nicht, dass es ihnen Umstände macht…“ beginne ich zu stammeln, schaue verlegen zwischen beiden hin und her, ganz ergriffen von diesem Hilfsangebot. „Das Auto ist voll!“ bremst er mich und ihren Vorschlag aus, bevor ich den Satz beenden kann. Und sie entgegnet mit gerollten Augen, nun auch hörbar verlegen ob der Schroffheit ihres Mannes, der nochmal so tief an der Zigarette zieht, dass sich eine lange Glutspitze bildet: „Aber er kann doch hinten bei Rocky sitzen!“ Er wendet sich und winkt dabei frustriert ab. Beide Meinungspole sind besetzt, ich sitze in der Mitte und grinse zähneknirschend. Ich danke ihr dafür, dass sie so ist wie sie ist, danke ihm für das Weisen des Weges und gehe los, bevor die Sache hier noch wegen mir in einen Ehestreit eskaliert. Ich stelle mir vor, wie die beiden sich in ihrem Auto streiten, der Hund kläffend zwischen beiden, wie sie ihrem Mann seine Engstirnigkeit und Schroffheit vorwirft und er ihr die Verträumtheit, die sie veranlasst wildfremde Landstreicher zwischen Wocheneinkäufen und tobendem Schoßhund durch Röbel chauffieren zu wollen. Für mich ist sie eine von den Guten: Von den hilfsbereiten und weltoffenen. Ihre Empathie für meine Lage, das Verständnis, das in ihrem Lächeln lag, stimmt mich zuversichtlich und optimistisch, auch wenn ich mich nun doch alleine und gekrümmt über die grob gepflasterten Röbeler Bürgersteige schleppe. Ihm wünsche ich derweil, dass ihm die Zigaretten nicht mehr schmecken.
Der Campingplatz liegt etwas außerhalb vom Stadtzentrum gelegen. Als ich nach einiger Zeit zweifle, den richtigen Weg genommen zu haben, weil sich dieser Campingplatz einfach nicht blicken lassen möchte, treffe ich auf eine energisch rauchende Frau. Ich keuche sie an, „Der Campingplatz, wie weit noch?“ und sie meint, es seien noch gut zwanzig Minuten mehr in die eingeschlagene Richtung. Zwanzig Minuten sind zwischen sechs- und achthundert schmerzhafte Schritten. In solchen Momenten darf man der Verzweiflung weder Raum noch Zeit zur Wirkung geben: Weiter, direkt weiter muss ich gehen und die ganze Frustration über den noch nicht gegangenen, noch vor mir liegenden Weg in die Büsche spucken. Ich bin ein einziger, kompakter, auf zwei geschwollenen Beinen kriechender Schmerz während dieser letzten zwei Kilometern. Dreißig Kilometer ansteigendes Leiden an einem Tag, was habe ich mir dabei gedacht? Wie in einem Rausch wird alles ausgeblendet, was nicht mit der Motorik des nächsten Schrittes zu tun hat. Nicht einmal grüßen kann ich mehr auf diesen letzten Metern.
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Und dann geschieht etwas zufälliges, was für mich einem kleinen Wunder gleich kommt. Ich erreiche den Campingplatz in der Minute, in der die Rezeptionistin diesen für heute schließen möchte – vor lauter Konzentration auf Weg und Schmerz vergesse ich scheinbare Nebensächlichkeiten wie Öffnungszeiten sehr schnell. Die Frau ist sehr nett und lacht viel. Auch sie kann sehen, dass ich heute über meine Grenzen gehumpelt bin und verbreitet keinerlei stressigen oder gehetzten Impuls, wofür ich ihr überaus dankbar bin. Es ist der günstigste Campingplatz des gesamten Trips, eine neue Rolle Klopapier inklusive. „Möchten sie vielleicht noch ein Bier haben?“ fragt sie und deutet auf den Kühlschrank neben mir. Ich kann nicht mehr antworten, ich kann nur noch zugreifen. Und während ich bereits das eiskalte Bier schlucke, erwähnt sie in einem Nebensatz, dass ich kostenlos die Therme besuchen könne. Es handele sich um ein Angebot der Nebensaison. Wie könnte ich nein sagen, denke ich mir und kalkuliere bereits ein Taxi ein, welches durch den wegfallenden Eintritt finanziert werden würde. Ich frage, ob sie eine Taxinummer für mich wüsste, und sie bietet mir stattdessen ihr Fahrrad an. Ich kann es nicht fassen! Während der Wanderung habe ich diese Möglichkeit auch durchgespielt, zum Campingplatz zu gehen und dort nach einem Fahrrad zu fragen. Nun habe ich mich dies nicht mehr getraut, das Lächeln, das Bier, das Thermeangebot, das war mir alles schon genügend Lohn für meine Erste-Welt-Strapazen heute, ich war zu verlegen um zu fragen. Und nun bietet sie mir von selbst ihr Klapprad an. Was für ein Engel!
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In solchen Momenten blättert der Schmerz von mir ab wie meine ersten sonnenverbrannten Hautschuppen. Die Zipperlein sind natürlich noch mit mir aber bloß noch von zweitrangiger Natur. Ich bin angekommen! Dieses Gefühl eines kleinen nicht mehr für möglich gehaltenen Triumphs überdeckt die Verzweiflung darüber, nicht mehr normal auftreten zu können. Stundenlanges Ankämpfen und auf die Zähne beißen verwandelt sich in einen Rausch des gemäßigten und stillen Erfolgs, des endorphingeschwängerten Freudestrahlens, plus der Wirkung des Bieres natürlich. So sehr mich der Schmerz während solcher Tage in die Knie zwingen mag, so sehr lässt er mich nach dem Abhaken einer solchen Etappe zu einem kleinen, größenwahnsinnigen Weltumarmer und Gemütskönig werden.
Als ich eine halbe Stunde später auf dem feuerroten Klapprad durch einen orgiastischen Fahrtwind zum Thermalbad fahre, fühle ich mich wie auf einem Muscle-Car. Die heile Welt rauscht an mir vorüber und ich muss meine Füße nicht belasten – ein Königreich für einen Drahtesel! Es ist der Rausch des wirklich kleinen Mannes.
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Ich fahre vorbei an jungen Dorfschönheiten, die die Familienhunde Gassi führen und sich womöglich noch mit ihrem Schwarm am See verabredet haben oder noch zur örtlichen Sparkasse laufen, um sich dort mit der Clique oder der Posse oder den Homies oder den BFFs zu treffen, wie es eben so eine Sitte ist, sich in solchen Orten vor den Banken oder auf dem Supermarktparkplatz zu treffen und gemeinsam wenig zu unternehmen außer zu rauchen und die leeren Kurven der Hauptstraße anzustarren und darauf zu warten, das etwas passiert oder man endlich alt genug ist, um von hier zu verschwinden, mit dem Schwarm oder ohne.
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