20. HUSARENSTREICH IN WANDERSTIEFELN

RIESA – GRIMMA

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zitat_31Kalt ist es und grau als ich Riesa verlasse und Richtung Oschatz aufbreche. Wenn ich das heutige Tagesziel erreichen möchte, darf ich mich nur selten ablenken lassen und muss hoffen, dass mein Körper mitspielt – bis Grimma sind es über vierzig Kilometer. Es hagelt vormittags extrem stark, als ich auf offenem Feld stehe und meine Regenkleidung überziehe, dann marschiere ich wieder im Sonnenschein oder werde im böigen Wind getrocknet. Nur vereinzelt sehe ich heute Menschen auf meinem Weg, beinahe alle frage ich nach den richtigen Richtungen um sicher zu gehen und keine Zeit durch Umwege zu verschwenden. Ich stehe vor der 1000 jährigen Linde in Collm und sehe anschließend drei Stunden keine Menschenseele auf den Schachbrettwegen durch ein angrenzendes Forstgebiet. Am Ende des Waldareals höre ich die Sprengarbeiten in einem Steinbruch, zivilisatorische Spuren, Menschen, Arbeit, Struktur. An einigen Bäumen sind zahlreiche leere Schnapsflaschen über die kleinen Äste gestulpt. Teilweise laufe ich stundenlang an den bedrohlichsten und dramatischsten Wolkenformationen vorbei, allein: Ergießen wollen sie sich nicht über mir.


Die Schmerzen der ersten Wochen sind verschwunden, es geht derzeit bloß voran und geradeaus. Zur Abwechslung bin ich einmal gut vorbereitet und habe eine große Portion Wegnahrung bei mir: Zwei Tafeln Schokolade, vier Bananen, eine große Tüte Studentenfutter, vier Proteinriegel, zwei Croissants. Ich schlinge das Essen während des Gehens hinunter, lediglich für einige Minuten lege ich hier und dort den Rucksack ab und gönne mir die einzige wirkliche Pause kurz vor Grimma. Ich setze mich an die Mulde und sehe die Umrisse der Stadt in der Ferne. Eine gute halbe Stunde lasse ich meinen Körper zur Ruhe kommen, starre auf das behäbig vorbei fließende Gewässer, bin stolz auf meinen Tagesmarsch. Das ist ein falscher Fehler, denn ich muss natürlich noch die letzten zwei, drei Kilometer in die Stadt laufen und mir dort eine Unterkunft suchen. Und da meinen Muskeln während dieser Pause auffällt, wie schonungslos ich heute mit ihnen gegangen bin, suche ich dann doch unter verkrampften Schmerzen die vier Hauptstraßen Grimmas nach einer Bleibe ab.

Grimma ist eine Handwerksstadt: Tischler, Glaser, Tuchmacher, Schuhmacher, Uhrmacher, Schlosser, Fotografen – alles kann man dort finden, bloß keine Pension oder ein Hotel. Ich bin kurz davor an die Klostertür zu klopfen, denn es wird bereits dunkel und ich bin nun und für heute mehr als bedient – vor allem meine Schultern machen mir zu schaffen. Was habe ich mir bei dieser Tour bloß gedacht? Ich werde tagelang nicht laufen können. Nutzlose Einsicht, weiter jetzt, es gilt ein Bett zu finden. Ich lasse die vier zentralen Straßen hinter mir und steuere für einen letzten Suchversuch auf das Bahnhofsviertel zu, von dem ich mir noch etwas verspreche. Guter Impuls, plötzlich breiten sich drei Hotels direkt nebeneinander aus. Ich checke im Husarenhof ein. Nach diesem Streich von einem Marsch erscheint mir dies recht passend.
Der Fußboden meines Zimmers ist enorm schief verlegt und meine Beine schmerzen so sehr, dass sich die Schritte nicht mehr kontrollieren lassen. Jeden Weg verstolpere ich und muss mich an der Wand festhalten um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich kehre im hauseigenen Restaurant ein und mache die 4000 Kalorien für heute voll, mindestens. Mein Körper liebt mich, mein Körper hasst mich. Schlaf ist eine Erlösung.

Am nächsten Morgen frühstücke ich im Café Florian, dass ich am Abend zuvor in der Altstadt entdeckt habe. Ich kaufe einen kleinen schwarzen Kaffee und ein Brötchen mit drei Scheiben Käse, einer Scheibe Gurke, einer Scheibe Tomate, Remoulade. Ich esse vor Ort im Café und zahle hinterher, nach der Lektüre der BILD-Zeitung. Kostenpunkt: 6,93€.
„Für ein Käsebrötchen und einen kleinen Kaffee?“ frage ich.
Die Dame am Tresen ist auf den Punkt erzürnt, rechnet mir mit messerscharfen Augen die Zusammensetzung vor. Ich schalte sofort auf Durchzug, höre keines ihrer gefauchten Argumente und zahle stattdessen brav und passend. Die Preise in Grimma sind auf Augenhöhe mit der Feinkostabteilung im KaDeWe.
Heute ist Freitag und Leipzig lockt mit all seinen großstädtischen Versuchungen und Reizen. Ich freue mich sehr auf diese Stadt, sie ist das urbane Wunschziel meiner Reise. Ihr Ruf des kleinen oder neuen Berlins weckt entweder Neugier oder Abneigung und bei mir ist es ganz klar die interessierte Vorfreude.

Natürlich kann ich den Weg heute nicht komplett laufen, mein Körper ächzt noch unter der Belastung des Vortages. Also drehe ich meine morgendliche Runde durch Grimma um die Muskeln etwas zu lockern und an einen neuen Tag zu gewöhnen. Dann stehe ich vor dem Bahnhof, der sich – wie sollte es anders sein – mit Brettern zugenagelt in seiner ganzen vergangenen Pracht vor mir ausbreitet. Diese ostdeutschen Bahnhofsvorplätze sind eine harte Arbeit für die ästhetische Toleranz: Auf dem Vorplatz befindet sich eigentlich immer ein sowjetisches Ehrenmal, drum herum verteilt befinden sich Blumenbeete aus Waschbeton, ein Discountmarkt lockt in der einen Ecke zum Konsum, die Straße der Jugend an der anderen Seite mahnt zur Flucht, dazu fieseste, menschenverachtende Graffiti an den Bahnhofswänden und Bushäuschen. Ich wünsche mir eine Stampede, die über diese Plätze hinwegfegt und die Zerstörung konsequent durchzieht, dort, wo die Verwahrlosung durch Zeit und mangelnde Nachfrage kriechend ihre Spuren vermehrt.
Ich nehme den Zug Richtung Leipzig. Eine Mutter mit zwei kleinen Jungs poltert lautstark in unserem Großraumabteil, die beiden rennen durch den Flur, randalieren ein bisschen, wie es kleine Jungs in dem Alter eben tun. Ihre Mutter explodiert nach einigen Minuten des Warnens vollends und hat eine Art hysterischen Anfall, kreischt bis sich ihre Stimme überschlägt. Sie brüllt vor allem: „Wenn ihr nicht gleich ruhig seid, dann setzt’ es was und wir drehen um!“ Sie schreit die beiden minutenlang an, ist vollkommen außer sich. Jeder Passagier im Wagon schaut sie an, dreht sich mehrfach nach ihr um. Sie ist kurz davor die beiden Jungs zu schlagen, man kann beobachten, wie wenig sie ihre Motorik noch unter Kontrolle hat, als ihr in einem seltenen Moment der Stille auffällt, wie sehr sie gemustert und beobachtet wird. Sie reißt sich am Riemen und die Jungs an den Armen. Man kann es sich lebhaft, man mag es sich allerdings nicht vorstellen, wie es bei ihnen daheim zugeht, wenn niemand zuschaut.
Ich steige in Naunhof aus und laufe den Rest bis Leipzig, wo ich eine andere kleine Welt wiedersehen werde.

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