SCHWERIN – PLAUER SEE – MÜRITZ

Trotz eines langen und tiefen Schlafes werde ich von meinem Körper am nächsten Morgen innig gehasst. Jeder Muskel ist eine fauchende und mies gelaunte männliche Katze. Die Blasenpflaster erweisen sich zudem als nutzlos, sie sorgen eher dafür, dass meine Blasen unter ihnen anschwellen. Zudem bin ich hier am See so etwas ähnliches wie verlaufen: Der Campingplatz, der am Abend zuvor noch ein rettendes Idyll für mich darstellte, erweist sich im Licht des neuen Tages als eine Sackgasse. Der einzige Weg, den ich von hier aus einschlagen könnte, wäre der den ich gestern bereits hierher gegangen bin – oder eben an den Hauptstraßen entlang.
Ich habe vor dem Start der Wanderung eine ungefähre Route geplant, die mich nun von Schwerin aus weiter südlich über Neustadt-Glewe bis nach Ludwigslust führen sollte. Dieser Plan ist mir heute früh, als ich mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Campingplatz zurück zur Hauptstraße wanke, weitestgehend egal. Gemüt und Körper fordern Improvisation, Abkürzung, Schongang. Es war mir klar, dass dies passieren würde, allerdings nicht zu einem so frühen Zeitpunkt. Der erste Augenblick für Pragmatismus.
Ich bin der universellen Überzeugung, dass jeder Plan und jede Idee zu einem bestimmten Zeitpunkt der Umsetzung verändert und an neue Bedingungen angepasst werden muss – ob ich nun koche, einen Film drehe, eine zwischenmenschliche Beziehung eingehe oder neunhundert Kilometer wandern möchte: Dies alles ist ohne Improvisation und Kompromisse nicht möglich. Um es mit Carl von Clausewitz zu sagen: “Kein Kriegsplan überlebt den ersten Zusammenstoß mit dem Feind.” Auf diese Weise kann ich es mir in niedergeschlagenen Phasen wie heute Morgen auch schönreden.
Ich plane, die zehn Kilometer zurück nach Schwerin zu gehen und von dort aus einen Zug an die Müritz zu nehmen. Nach den wenigen hundert Metern aus dem Wald heraus ist mir bereits klar, dass auch diese zehn Kilometer heute utopisch sein werden. Ich stehe nur wenige Momente an der Hauptstraße und überlege, was ich tun soll, als ein Bus direkt vor mir anhält. Der Fahrer lenkt seinen Wagen voller Luft durch die Schweriner Vororte. Schmunzelnd öffnet er die Tür und sagt, ich hätte nun ein günstiges Taxi gefunden. Wenn ich ins Zentrum möchte kann ich mir aussuchen, wo er mich absetzt. Na sowas.


zitat_6Ich sitze ganz vorne und schaue über seine Schulter und durch die große Frontscheibe dabei zu, wie sich Schwerin um uns herum annähert und uns schließlich in sich aufnimmt. Er bemerkt natürlich, wie umständlich ich mein Gepäck durch die engen Sitzbänke wuchte und beginnt zu fragen, ob ich nicht von hier sei und was mein Auftrag sei. „Mein Auftrag“ grinse ich „ist mir das Land anzusehen.“ Ich erkläre ihm, dass ich eigentlich zu Fuß unterwegs bin und mich etwas übernommen habe, und ihm nun sehr dankbar für seine Dienste bin, die mir so glücklich in den Schoß gefallen sind. Er fragt noch einmal ungläubig -“zu Fuß?!“ – und schlussfolgert dann mit einem ursympathischen Blick rhetorisch über die Schulter fragend: „Entschuldige meine Wortwahl – hast du den Verstand verloren?“ Tosendes, beidseitiges Gelächter. Ähnlich heiter geht die Unterhaltung weiter. Kein Mensch außer mir möchte sonst mit dem Bus fahren. Während ich ihm bisher Geschehenes und noch Geplantes berichte, grinst er durch seinen buschigen Walrossbart und schüttelt im Ungläubigkeitsrhythmus seinen Kopf. Am Ende unserer Fahrt meint er, dass sich seine Kollegen stets über die Wochenendschichten beschweren würden. Wenn er jedoch solche Geschichten erlebt, kann er nicht meckern. Wir reichen uns die Hände zum Abschied, als er mich wie versprochen außerfahrplanmäßig direkt vor einem Bankautomaten aus dem Bus steigen lässt.
Am Bahnhof in Schwerin erwartet mich eine phantastische und sehr entgegenkommende Infrastruktur. Die Kommunikation mit der Bahn-Angestellten im Reisezentrum funktioniert vorbildlich. Ich bekomme genau, wonach ich mich sehne: Eine mehrstündige Fahrt in diversen Zügen, unterbrochen durch einige Umsteigeaufenthalte auf ostdeutschen Provinzbahnsteigen. Meine Vorfreude könnte als langjähriger Fan der Deutschen Bahn kaum größer sein. Im Anschluss an die Reiseplanung, steht mir eine breite Auswahl an diversen Bäckereien und Geschäften für die Zusammenstellung eines Frühstücks und weiterem Proviant zur Verfügung. Beruhigend und typisch deutsch, dass diese Art des Reisens so sorgenfrei und reibungslos funktioniert. Überall. Denke ich.
Am Bahnsteig harren die ersten Hansa-Rostock Fans aus vollem Hals und bei jeder Menge Dosenbier aus. Mit frühlingshaftem Sonnenschein im Auge und einem fettigen Käse-Remouladen-Brötchen als Frühstück lausche ich dem Klangteppich aus blechernen Schlachtgesängen und Dosengeklimper. Samstag Vormittag in Deutschland – es ist die Zeit der Hobbys.
Eine Stunde beträgt meine Wartezeit an dieser ersten Etappe und die anschließende reine Fahrzeit von einhundertfünfzig Minuten verteilt sich auf drei verschiedene Züge. Wundervoll, wie die Welt durch diese großen Fenster an mir vorüber zieht; Wälder, Wiesen, Seen, Kleinstädte und Dörfer. Dann erreiche ich das etwa einhundert Kilometer entfernte Waren an der Müritz. Vor dem verschlossenen Bahnhofsgebäude wartet etwa ein Dutzend Taxen auf, ja, auf wen denn bitte? Es ist Samstag Mittag kurz nach eins, nur drei Menschen steigen hier aus oder um, ansonsten viel Ödnis und Leere. Ich drehe eine Runde um den Bahnhofsblock, vorbei an geschlossenen Tierarztpraxen, Bäckereien, Metzgereien, einer verdunkelten Apotheke und entscheide intuitiv: Hier möchte ich nicht bleiben! Wider besseren Wissens hatte ich mehr erwartet. Doch in welcher Stadt gibt der erste Eindruck der Bahnhofsgegend treffend die Möglichkeiten eines Ortes wieder? Wahrscheinlich hätte Waren an der Müritz eine Chance verdient.
Ich verbringe also eine weitere Stunde Wartezeit am Bahnsteig, gemeinsam mit zwei pubertierende Mädchen und ihrer grässlich überproduzierten, viel zu lauter Popmusik oder dem was man heute dafür hält. Ferner wartet noch eine ältere Frau, auf deren Korb mit Hühnerküken ich mich um ein Haar setze und die sich laut und lange über die ungenauen Fahrpläne beschwert, die der Grund dafür seien, dass sie und ihre Osterküken heute nicht pünktlich in Hamburg sein werden.
Als ich dann im Zug sitze und auf dessen Abfahrt warte, steigt im Nebenzug ein junger Mann mit Stiernacken und schwarzem Kapuzenpullover ein, darauf die Aufschrift: „Nacionale Socialisten Malchow“, darunter zwei gekreuzte AK47. Aha. Er ist auf dem Weg nach Rostock und ich auf dem Weg in seinen Heimatort. Dort angekommen muss ich nur einige Meter gehen, bis ich auf sein vermeintliches Clubheim stoße: Blickdichte Mauern, Fraktur-Schrift „Freizeitverein B2 e.V.“. Soso.
Die fünf Kilometer vom Ortszentrum bis zum Campingplatz im Wald am See laufe ich dann wieder. Ziemlich ungelenk muss das aussehen, aber am Ende erreiche ich den Platz, der nun für zwei Nächte und einen Tag mein Refugium sein soll. Vor der Rezeption sitzt ein Vater mit seinem Sohn im Schatten, der Sohn am Gameboy, der Vater am Smartphone, vor sich ein Pils und einen Kräuterschnaps. Eine Deutschlandflagge weht auf der Veranda des Restaurants.
Ich eröffne hier meine persönliche Badesaison an der ruhig gelegenen Hundebadestelle des Campingplatzes. Das Wasser ist unfassbar kalt, meine Beine freuen sich. Anschließend erinnere ich mich an Louis C.K., der in einem seiner Sketche davon spricht, dass die Hölle auf Erden für ihn sei, sich die Socken anzuziehen. Ich verstehe ihn und leide auf allerhöchstem Niveau. Der Rest ist ein stundenlanger Blick auf den See.
Auf der Veranda des Campingplatzrestaurants am ersten Abend dann: Keine Stimmen, kein Bellen, keine Motoren, kein Radio. Lediglich die Vögel aus dem Wald sind zu hören. Dann kommen Mama, Papa und Sohnemann und vorbei ist es mit der Ruhe. Mutti geht auf die Toilette, der Sohnemann auf dem Spielplatz toben und Papa darf endlich wieder mit seinem Smartphone daddeln. „BING!“ macht das Gerät und Papa ist jetzt erst mal weg in einer anderen Welt, fernab dieser Veranda. „Papa, guck’ mal was ich kann!“ ruft sein Sohn begeistert vom Spielplatz und Papa antwortet ohne aufzublicken „Jaja.“. Derweil speise ich wie gewohnt: Fürstlich in der Portion, bäuerlich im Stil. Essen – was für eine Erfüllung! Der Kellner jedenfalls ist erstaunt, als er die leeren Teller abräumt. „Das hätte ich jetzt nicht erwartet.“ sagt er beeindruckt. Satt und erfüllt schlafe ich auch hier wieder vor dem Sonnenuntergang ein.

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Am nächsten Morgen werde ich vom Trommelhämmern dreier Spechte geweckt und etwas stakst durch das Gebüsch neben meinem Zelt. Wenn ich meinen Zeltreißverschluss öffne, habe ich direkte Sicht auf den See. So liege ich eine Weile einfach da und brauche überhaupt nichts, höre erst den Vögeln zu und irgendwann dann auch der unvermeidlichen, campingplatzeigenen Badelatschenakustik. Dann bekomme ich Hunger.
Ich frühstücke mit meinen Füßen im ebenso kalten wie klaren Wasser des Sees. Man grüßt sich hier freundlich und leise, mit einem bestimmten Kopfnicken, manchmal noch mit einem Grinsen. Das Gespräch wird nicht eröffnet und ich bin an diesem Tag auch nicht wirklich traurig darüber. Man kann sehr schnell sehen, dass die Freundschaften hier über ungezählte gemeinsame Wochenenden und Ferien entstanden sind. Jeder hier redet miteinander als wären sie alte Cousins und Cousinen, Onkels und Tanten, und deshalb komme ich mir ein wenig vor, wie ein Gast auf einer Familienfeier. Ich lege meine orange Isomatte in das Moos neben meinem Zelt und schaue dabei zu, wie die grell gefärbte Unterlage hunderte und tausende kleine Käfer wie magnetisch anzieht. Heute werde ich nicht laufen, es ist Zeit für Müßiggang, Literatur, Reflexion, Kommunikation mit Freunden und Familie. Das tut gut, das gibt Rückenwind.
Als ich meinem Vater am Telefon sage, dass ich am Plauer See bin, erinnert er mich an einen Familienurlaub, den wir 1991 hier verbracht haben. Meine Eltern hatten sich kurz zuvor ihren ersten, sehr kleinen Campingwagen gekauft und der erste Ausflug führte uns auf die andere Uferseite nach Plau am See. Mein Vater fluchte auf der holprigen Fahrt wie ein Rohrspatz über die Betonplatten, die man hier „Straßen“ schimpfte. Wir sind damals auch nur wenig im See gewesen, weil dort jede Menge Fische mit dem Bauch nach oben getrieben sind und man selbst die eigenen Füße nicht mehr erkennen konnte, wenn man nur einige Meter weit ins Wasser gewatet ist. Ich habe mich damals mit der Tochter von Freunden meiner Eltern in das Kino auf dem Campingplatz geschlichen. Es war ein maroder Wellblechhangar und wir haben dort „Terminator II“ gesehen, was für einen achtjährigen schon ein recht männliches Date gewesen ist. Ansonsten habe ich sehr viele lustige Taschenbücher gelesen, während der ostdeutsche Regen auf unseren rosa Wohnwagen getröpfelt ist.
Am späten Nachmittag bekomme ich meine ersten Nachbarn. Eine junge Frau baut mit maximaler Nervenruhe und Ausgeglichenheit ein Zelt auf. Ihre drei Kinder rennen durcheinander, wuseln durch die Planen und die Gegend. Die Mutter erhebt kein einziges mal die Stimme, sie lacht und albert mit den Kindern herum und ist mir damit ein Musterbeispiel für alleinerziehende Stärke und Souveränität: Die toughe Frau aus Berlin, die mit ihren drei kleinen Teufeln mühelos den Müritz-Campingurlaub angeht, im März und bei nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt. Eine Heroin der entspannten Naherholung, hier steht sie schmerzfrei und vergnügt vor mir und beeindruckt mich zutiefst.

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