LÜBBENAU
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Die Tagesform ist es, die mich bestimmte Wege gehen und andere Pfade unbeachtet links oder rechts liegen lässt. Sie lässt mich spontan werden oder stur bleiben. Die jeweilige Tagesform zieht mich in Cafés oder Brauereien, hin zu der sogenannten „gutbürgerlichen Küche“ oder zum Italiener. Sie gehorcht im besten Falle den Impulsen und gibt sich der Freiheit aus Zeit, Raum und Budget hin und zieht mich im schlimmsten Falle resignierend und verbittert in mein Zelt oder meine Pension zurück. Sie ist der größte Faktor beim Finden eines Urteils: Lieber Ort, verehrter Landstrich, bist du mein Freund und meinst es gut mir mir? Oder willst du, trostlose Ansammlung menschenfeindlicher Infrastruktur, dass ich hier verschwinde und nie wieder komme?
Die Tagesform lässt mich an bestimmten Tagen offener, freundlicher, aufgeschlossener wirken, als zu anderen Zeiten. Als Einzelgänger, Sonderling, Landstreicher der ich nun bin, ist dieses offene Wesen die wichtigste Äußerlichkeit, die ich besitze. Abgekämpft und mit dem müdesten Lächeln im Gesicht, betrete ich die kleinste Brauerei Brandenburgs in Lübbenau. Der Ort ist aufgrund des Marathons vollständig ausgebucht und ich hatte mich nach 20km Wanderung unter phasenweise starken Schmerzen mal wieder auf ein Bett gefreut. Stattdessen musste ich das Zelt im Regen aufbauen und habe mich anschließend durch die kleine, verträumte Stadt geschleppt, die heute aus einem einzigen, ineinandergreifenden Bierpilz mit Schlagermusikbeschallung besteht. Läufer, Sportler, isotonische Getränke, Funktionskleidung soweit mein Auge sehen kann. Und dann finde ich dieses kleine Brauhaus in einer Nebenstraße. Das Logo ist eines der schönsten, das ich je gesehen habe, trotz zumeist mangelnder deutscher Wertschätzung für Verpackung, Design und Farbgebung. Das Brauhaus strahlt hier in der Spreewälder Provinz etwas skandinavisch oder holländisch Gestaltetes aus.
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Das Lokal ist sehr gut gefüllt. Ein Tisch im Zentrum, gedacht für sechs Personen, wird von einem Mann belegt. Ich frage, ob ich mich dazu setzen kann. Er antwortet mit ausholender Handbewegung und einladend „Bitte! Bitte!“, was mich sehr freut und so nehme ich am anderen Ende des Tisches Platz. Wir kommen rasch ins Gespräch, denn anders als so viele Menschen, die mir begegnen, ist er neugierig und stellt Fragen. Bald rückt er nahe zu mir heran, legt seine Zeitung weg und wir befinden uns im geselligen Ping-Pong einer großartigen Unterhaltung. Es ist so erheiternd für meine Laune, hier jemanden gefunden zu haben, der mich versteht und respektiert was ich hier mache, und außer mit ihm ein Bier nach dem anderen zu trinken, ist das ja momentan wenig mehr als bloßes Gerede. Ich sehe, dass es ihm mit mir genauso ergeht. Er wurde geboren als das große Schlachten endete und hat vor kurzem seinen kompletten Besitz abgegeben – „inklusive meiner Frau“ – und sich in einer kleinen Pension niedergelassen. Dort bekommt er seine Hemden gebügelt, sieht ansonsten sehr wenig Menschen, und verbringt seine Zeit mit Reisen durch Deutschland. Als ich ihm sage, dass ich noch ganz benommen von Tropical Islands bin, spricht er seine Dankbarkeit für solche Orte aus. „Die sorgen dafür, dass ich die Natur für mich habe! Lasst sie doch alle verschwinden in ihre Freizeitparks!“ Für einen Menschenfeind ist er unglaublich unterhaltsam und redselig – es liegt offenkundig an der geteilten Leidenschaft für das Unterwegssein an sich. Wir haben gemeinsame Nenner bei jedem angerissenen Thema, Pauschaltourismus (unvorstellbar aber toll, weil es die Touristen untereinander bindet und konzentriert), Bahncard 50 (ein Splitter Freiheit), Bier (noch eins, gerne), das Reisen alleine (so wenig Kompromisse und so viel Freiheit wie möglich).
Das nächste Bier wird an den Tisch gebracht. Er schaut es sich einige Augenblicke stumm und andächtig an, scheint über etwas nachzudenken. Dann blickt er grinsend zu mir hoch. „Jetzt habe ich ein Opfer gefunden!“ sagt er. Ich solle ihm Bescheid geben, wenn er mich mit seinen Geschichten nerve. Ich wiederum kann mir wenig schöneres Vorstellen, als seiner Reisebiografie zu lauschen. Er ist mit sechzehn Jahren zur See gefahren, hat in sechs Jahren – „bis auf Südostasien“ – alles gesehen und erlebt was man zur See erleben konnte, bevor die Containerschiffe kamen und „den letzten Rest Seemannsromantik zerstört haben.“ Er spricht von Kawenzmännern und Seeungeheuern, von dem aus nächster Nähe erlebten Vulkanausbruch auf den Azoren und Liebschaften in jedem möglichen Hafen. Er gerät ins Schwärmen über eine kleine Insel vor Capri, wo er einst eine Woche mit einer Frau verbracht hat. Nach einigen Tagen ging ihnen das Trinkwasser aus, er hat Fische in der Bucht gefangen, und kurze Zeit später mussten sie gerettet werden wie zwei Schiffbrüchige – sie waren beide siebzehn Jahre alt. Ich hänge an seinen Lippen und er an meinen, wenn ich von meinen Reisemotiven berichte. Mittlerweile sitzt eine junge Familie bei uns am Tisch und ich bemerke, wie die Eltern kaum noch Augen und Ohren für ihre kleine Tochter haben und stattdessen unserem Gespräch folgen.
Ein Bier wollte ich hier trinken und mir dann den Marathon ansehen. Ich bleibe für vier große Biere und genieße jede Sekunde. Wir verabschieden uns mit einem langen, kräftigen Händedruck und er sagt mir, dass aus mir sicher etwas werden wird, da brauche man sich ja keine Sorgen zu machen. Nichts auf der bisherigen Tour hat mich dermaßen gestärkt, zuversichtlich gestimmt und mir den Bauch gepinselt. Begeistert vom Gespräch ertrage ich den pausenlos von Schlagermusik beschallten Nachtlauf in dem Park um mich herum und falle bierselig in einen tiefen Schlaf.
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